Warum schreibe ich - eine Inzestüberlebende? Selbstermächtigung nach familiärer sexualisierte Gewalt.
- Marion Princk

- 31. Mai
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Juni

Eine Stimme für das Unsagbare
Als Inzestüberlebende und Autorin weiß ich, wie schwer es ist, Worte für das Unaussprechliche zu finden. Lange habe ich gezweifelt: Wer will meine Erfahrungen lesen? Reichen Worte überhaupt aus, um das zu beschreiben, was mir widerfahren ist – und was so viele andere Betroffene familiärer sexualisierter Gewalt bis heute erleben?
Diese Form der Gewalt geschieht im engsten Kreis – dort, wo Vertrauen, Sicherheit und Schutz selbstverständlich sein sollten. Genau deshalb ist sie so zerstörerisch. Und genau deshalb ist es so wichtig, darüber zu sprechen.
Ich verwende bewusst das Wort Inzest. Auch wenn es unbequem ist. Auch wenn es Angst macht. Denn es macht sichtbar, worum es wirklich geht: um sexualisierte Gewalt durch nahe Bezugspersonen – oft die eigenen Eltern, Geschwister oder Großeltern.. Wenn wir das nicht klar benennen, bleibt das Geschehene unsichtbar und mit ihm die Menschen, die es überlebt haben. Menschen, die als es begann Kinder waren und deren Familie ein Schutzraum für Sexualstraftäter war und in den meisten Fällen bis heute noch ist. Kinder für die es 24/7 365 Tage im Jahr kein Entkommen gab. Kinder, die von diesen Straftaten geprägt sind, sich aufgrund dieser zerstörerischen Basis zum jugendlichen und erwachsenen Menschen entwickeln mussten. Kinder, die ohne fachliche Hilfe oder ein gesundes menschliches Gegengewicht massive psychische, physische und mentale Folgen davontragen. Eine fatale Folge ist es das Trauma an die nächste Generation weiterzutragen.
Damals begann das Schreiben als leiser Versuch. Die Idee mich über das Schreiben zu sortieren, wurde zu meiner Rettung. Tagebuchseiten waren mein erster Schutzraum. Hier durfte alles sein – die Wut, die Angst, die Verzweiflung. Aus Gedanken wurden Sätze. Aus Sätzen entstand Klarheit und mit der Klarheit kam zum ersten Mal so etwas wie innere Sicherheit in mir auf. Ich begann, mich selbst zu spüren. Mich zu sehen. Mich ernst zu nehmen. Es war unglaublich.
Schreiben bedeutet für mich: Ich habe eine Stimme.
Eine Stimme, die „Nein“ sagen kann. Eine Stimme, die sich löst aus dem Netz aus Schuld, Angst und Täterschutz. Eine Stimme, die sagt: Ich bin nicht das Problem. Ich bin mehr als das, was mir angetan wurde. Ich bin Überlebende - ich habe als Kind und Jugendliche meine Inzestfamilie überlebt - ich kann alles schaffen.
Ich schreibe, weil ich überlebt habe.
Ich schreibe, um das Schweigen zu brechen, um Mauern einzureissen.
Ich schreibe, um bloßzustellen, was mir als Kind und auch später verboten war.
Ich schreibe, um zu zeigen: Du bist nicht allein - wir sind viele!
Ich schreibe, um die Spirale der Gewalt zu unterbrechen.
Ich schreibe, weil ich möchte, dass die Menschen hinsehen und zuhören.
Ich schreibe, weil die Angst vor dem Bewusstsein für Inzest, familiäre sexualisierte Gewalt keine Ausrede sein darf, wenn Kinder diese generationsübergreifende Gewalt im Kinderzimmer, am Esstisch und über ihre gesamte Kindheit und Jugend hinweg überleben und viele sich sogar heute für das Thema engagieren.
Ich schreibe, um zu zeigen, dass Überlebende das Recht auf angemessene Hilfe, Rechtsprechung, Anerkennung und Bestärkung haben.
Ich schreibe, weil ich über die vielfältigen und lebenseinschneidenden Folgen aufklären möchte.
Ich schreibe, weil ich mir einen "Aufstand der Inzestüberlebenden" wünsche, der die Verhältnismäßigkeit zwischen Recht und Unrecht, zwischen Opfer und Täter, zwischen Scham und Schuld wiederherstellt.
Ich schreibe, weil Täter und Täterinnen sich verantworten und stellen müssen.
Ich schreibe, um eine Lobby aufzubauen, denn nicht die Opfer sind die "schwarzen Schafe" und nicht sie sind es, die ausgegrenzt werden sollten.
Ich schreibe über das was niemand hören und lesen möchte, weil nicht ich es bin, die sich verstecken muss.
Ich schreibe, weil ich jeden Tag spüre was mir geschehen ist, ich lebe damit seit ich denken kann - ich schaffe das, wie so viele andere, also fordere ich von der Gesellschaft sich solidarisch zu zeigen indem sie ebenso mutig und konsequent ist.
Ich schreibe, weil ich denke, dass es die moralische und ethische Pflicht der Gesellschaft ist, dies mitzutragen, damit Täter sich nicht mehr im Schutz des Schweigens verstecken können, während ihre Opfer den psychischen oder sogar den physischen Tod sterben.
Ich schreibe, weil ich den Überlebenden helfen möchte sich aus der Opferrolle hinauszubewegen, um sich als das was sie in Wirklichkeit sind, als Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferin wahrzunehmen..
Ich schreibe, um einen Perspektivwechsel zu erreichen - so wie ich ihn für mich und mein Leben außerhalb der Opferrolle und Täterwelt erreichen musste.
Ich schreibe, um ein Gegengewicht zur Täter-Opfer-Umkehr, die sich in den Überlebenden, aber auch gesellschaftlich verankert hat, herzustellen.
Ich schreibe, um der Geschichtslosigkeit entgegenzuwirken.
Ich schreibe, um Hoffnung und Mut zu geben.
Der Weg der Heilung ist lang. Er ist nicht geradlinig. Er ist geprägt von Rückschritten, Zweifeln und inneren Kämpfen. Viele von uns tragen das Trauma über Jahrzehnte mit sich – oft gut verborgen hinter Fassade, Funktion und Anpassung. Aber unter der Oberfläche wirkt es weiter und zeigt sich selbstzerstörerisch. Es prägt unsere Beziehungen, unser Selbstbild, unser Leben. Und doch: Aufarbeitung lohnt sich, da durch sie Heilung möglich werden kann. Die zerstörerischen Kräfte können in eine konstruktive Richtung gelenkt werden, um der Opferrolle zu entkommen.
Viele sagen als Opfer hat man lebenslang, da vieles nicht ausheilt, die Schmerzen und Folgen ein Leben lang bestehen bleiben. Nicht wenige tragen irreversible Schäden davon, was am Ende kein Wunder ist, wenn man sich ihre Geschichte ansieht. Und doch möchte ich sagen, dass Heilung in mehr Bereichen gelingen kann, als man sich selbst oft vorstellen kann. Wichtig dafür ist in Bewegung und mutig zu bleiben. Schritt für Schritt. In dem Tempo, das sich richtig anfühlt.
Ich schreibe für alle, die tagtäglich gegen die Gewalt und ihre Folgen in sich kämpfen - Betroffene leisten Übermenschliches.
Ich schreibe für die, die ihre Geschichte vielleicht noch nie laut ausgesprochen haben.
Ich schreibe, um aufzuzeigen wie tief die langjährigen Folgen von Gewalt sich in einem Menschen, sein Selbstbild und seine Wahrnehmung festsetzen.
Ich schreibe für die, die sich im Loyalitätskonflikt oder Abhängigkeiten befinden.
Ich schreibe für die, die krank geworden sind, die durch das Erlebte nicht mehr am Leben teilnehmen können oder wollen.
Ich schreibe für die, die sich fragen, ob sie noch etwas vom Leben zu erwarten haben.
Ich schreibe für die, die sich fragen, ob sie „zu empfindlich“ sind, „übertreiben“, "es sich einbilden" oder die Realität verdrängen, weil es zu "verrückt" scheinen könnte.
Ich schreibe, um "Nein" zu sagen, um zu sagen:. "Du bist nicht zu viel. Du bist nicht zu zerbrochen. Du hast überlebt. Du musst den Schmerz nicht mehr allein tragen. Es gibt ein Leben danach. - Wir sind viele und wir können uns gegenseitig ermutigen."
Ich schreibe, um meine Erfahrungen weiterzugeben und durch Impulse Lösungswege anzuregen.
Ich schreibe, um Selbstermächtigung zu zeigen. Es ist möglich dein Leben zu leben!
Ich schreibe für Fachkräfte, Unterstützende, Helfende. Damit sie vertiefend verstehen können, wie es sich anfühlt, mit einem derart zerstörerischen Trauma zu leben. Und was es bedeutet, nicht ernst genommen oder vorschnell bewertet zu werden. Wer Menschen in ihrer Heilung begleiten möchte, braucht nicht nur Wissen – sondern Mitgefühl, Geduld und ein offenes Herz.
Ein besonderer Schwerpunkt meiner Arbeit liegt im Sichtbarmachen von Täterstrategien und in der Auseinandersetzung mit den Konflikten, die das Kind eines Sexualstrafttäters dadurch in sich trägt. Wichtig: Verständnis soll hier nicht mit dem entschuldigen der Taten gleichgesetzt werden. Es geht darum zu begreifen wie die elterliche täterloyale Prägung selbst im erwachsenen "Kind" wirken und von Tätern genutzt werden kann. Und es geht darum die quälende Frage eines Kindes nach dem Warum für sich so gut es geht zu klären. Tätervorgehen zu verstehen ist schwer und nahezu unmöglich, wenn man selbst kein Täter ist. Um Selbstschutz zu ermöglichen ist es jedoch lebenswichtig zu wissen, wie die tief angelegten Mechanismen in einem funktionieren.
Denn Täter sind oft auch "liebevoll", spielen sich als "Retter" auf, handeln oft subtil, manipulativ und über lange Zeit hinweg. Sie nutzen Vertrauen, Liebe und kindliche Abhängigkeit gezielt aus. Wer diese Dynamiken kennt, kann schneller erkennen, eingreifen, sich schützen, um sich von der Schuld und Scham zu befreien, die ihm nicht gehört. Es ist ein entscheidender Faktor in der Aufarbeitung und Hilfe, damit Selbstermächtigung und Selbstbewusstsein aufgebaut werden kann.
Es gibt also viel zu sagen, was nicht ungesagt bleiben darf, wenn das Ziel ist den Opfern - den Überlebenden, die als Kind schon Unglaubliches leisten mussten, ihre Würde, den Respekt und die nötigen Informationen zur Selbstermächtigung und zur Verbesserung ihrer Lebensqualität zurückzugeben.
Dieser Blog ist für:
Überlebende von Inzest und familiärer sexualisierter Gewalt
Menschen, die gerade ihren Weg aus dem Schweigen suchen
Fachkräfte aus Beratung, Therapie und Opferschutz
Angehörige, Unterstützende und alle, die genauer hinsehen wollen
Menschen, die helfen wollen, das Tabu zu brechen und sichere Räume zu schaffen
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